Die israelische Staatsgründungs auf einem imperialistisch aufgeteilten und besetzen Planeten Israel und die Hamas innerhalb der imperialistischen Weltordnung (Teil 2)

Politik

Gerechte Zwecke können durch berechtigte Mittel erreicht, berechtigte Mittel an gerechte Zwecke gewendet werden." (W. Benjamin, 1955: 31)

David Ben-Gurion proklamiert am 14. Mai 1948 den Staat Israel.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

David Ben-Gurion proklamiert am 14. Mai 1948 den Staat Israel. Foto: Israel Ministry of Foreign Affairs (PD)

19. Februar 2024
6
0
9 min.
Drucken
Korrektur
Die israelische Staatsgründungsidee sah sich wie die der Hamas vor die Frage gestellt, wo ihr Volk ohne eigenen Raum sich ein eigenes Hoheitsgebiet schaffen kann als nationale Heimstätte aller in der Diaspora verstreuten und meist ausgegrenzten, verfolgten und zuweilen niedergemetzelten Menschen jüdischer Herkunft - mit vorläufigen Kulminationspunkt des Holocaust. Und wie heute die Hamas, sah sich Israel damals gegenüber der Realität einer imperialistisch aufgeteilten und bereits vergebenen Erdoberfläche: Ein Dasein ohne eigenen Staat, ausgestattet mit einem schlagkräftigen Gewaltmonopol nach Innen und insbesondere nach Aussen, bedeutet - siehe 2000 Jahre jüdische Diaspora, siehe kurdisches Leben und Überleben, siehe failed states, siehe abgehängte Dritt- oder Vierte Welt-Staaten - Spielball oder Flugsand sein im Rahmen der globalen imperialistischen Gross- und Weltmacht-Konkurrenz. Das begründet das recht materielle Interesse an der Gründung eines Staates: Israels wie das der Hamas.

Eingedenk und unter Berufung auf das Alte Testament und mittels mehr oder weniger spekulativer Deutungen frühgeschichtlich-altorientalischer Quellen über die Vorstaatlichkeit hebräischer Nomaden und Stämme,8 nahm die israelische Staatsgründungsidee und Staatsgründung ihren Ausgang von der ersten Zuwanderung, der ersten "Aliya" um 1882. Die definierte "...their goal as the political, national, and spiritual resurrection of the Jewish people in Palestine.” (Immigration to Israel: The First Aliyah 1882 - 1903)9 Und Dank der Hilfe der regional- und weltpolitischen Berechungen und Interessen damals relevanter Weltordnungs- und Schutzmächte gelang es, die israelische Staatsgründung mittels Landkauf, Besiedlung, Kolonialisierung, Vertreibung, Inbesitznahme, Enteignung und paramilitärischen Terrorismus die bereits vergebene Erdoberfläche Palästina sich anzueignen, einzunehmen und sich einzuverleiben. Dass innerhalb einer imperialistisch aufgeteilten und bereits vergebenen, besetzten Erdobefläche paramilitärischer Terrorismus zur Staatsgründung dazugehört, versteht sich von selbst - nicht nur bei der israelischen Staatsgründung, nicht nur beim palästinensichen Staatsgründungsversuch. Wegen der imperialistisch aufgeteilten Erdoberfläche gerät jeder Staatsgründungsversuch zu einem absoluten, antagonisischen Gegensatz nationaler Interessen.

Der unbedingte Gegensatz israelischer und palästinensischer nationaler Interessen

Das von der israelischen Staatsgründung an bis auf den heutigen Tag herrschende gleichsam innerstaatliche israelische Eigentümer-Hausherrenrecht und Besatzungsregime über dieses Gebiet ist also, so gesehen, notwendig, soll die Existenz und Selbstbehauptung des israelischen Staates innerhalb der imperialistischen Weltordnung einen angemessenen Bestand haben und nicht wieder zum Spielball oder Flugsand überlegener Gross- und Weltmächte im Ringen um "einen Platz an der Sonne" (von Bülow, 1997) werden.

Der Rechtsanspruch eines palästinensischen Staatsgründungsprojekts auf ein eigenes Hoheitsgebiet, das seit 1948 definitiv israelisches und zudem weiter ausgreifendes Hoheitsgebiet ist steht, auch ganz ohne ausdrückliche palästinensische Feindschaftserklärung, in einem Gegensatz zur Realität des israelischen Staates und dessen Besatzungsregime. Eines Besatzungsregimes über den Gazastreifen, über das Westjordanland und über die Golanhöhen, samt palästinensischer Einwohnerschaft, die sich unter diesen Bedingungen seit Generationen dort fortpflanzt und (über-) lebt. Mit einem Wort: Das Interesse einer palästinesischen Staatsgründung steht dem Interesse des real existierenden israelischen Staates und Besatzungsregimes konträr entgegen.

Für die israelische Staatsräson gilt umgekehrt das Gleiche: Der palästinensische Anspruch auf einen souveränen Staat steht unversöhnlich im Widerspruch zur Realität und zum allgemein anerkannten Existenzrecht des Staates Israels und seines besatzungsrechtlich exekutierten Hoheitsgebietes. So prinzipiell unversöhnlich, das selbst das palästinensische Angebot, vom Anspruch auf ganz Palästina als zukünftigem palästinensischen Hoheitsgebiet Abstand zu nehmen und sich auf die von Israel 1967 eroberten Gebiete zu beschränken, von israelischer Seite aus zurückzuweisen ist:

Wenn Israel erklärt, dass es den Palästinensern einen Staat gibt und ihnen alle ihre Rechte zurückgibt, dann sind wir bereit sie anzuerkennen...Wenn Israel sich hinter die Grenzen von 1967 zurückzieht, dann werden wir schrittweise Frieden schaffen...Wir hegen keine feindlichen Gefühle gegen Juden. Wir wollen sie nicht ins Meer drängen. Alles was wir wollen, ist unser Land zurück und nicht jemandem schaden. (Hanniye, 1. März 2006)10

Warum sollte Israel dem auch zustimmen? Weiss doch auch Israel, dass die Selbstbehauptung, Handlungsfähigkeit und souveräne Durchsetzungsfähigkeit des eigenen Staates in der den Planeten umfassenden imperialistischen Grossmächte- und Weltmacht-Konkurrenz mitunter auch von der Grösse des staatlichen Territoriums und der Verfügung über eine möglichst zahlreich vorhandene, staatsloyal-patriotische Humanressource im Frieden und erst recht im Krieg abhängt. So bleibt es bis zum 7. Oktober 2023 bei der Gegensätzlichkeit und Unversöhnlichkeit beidseitiger staatlicher Interessen und gegeneinander geltend gemachter Rechtsansprüche auf dasselbe Stückchen Erdoberfläche. Und es bleibt auch bei der grundsätzlichen Verhinderung einer palästinensischen Staatsgründung durch Israel. Bis zum 7. Oktober darin unterstützt durch seine Schutzmacht USA und im Einvernehmen mit der westlichen Wertegemeinschaft. Denn: Die 1993 geschlossenen Osloer Verträge mit dem Inhalt einer 2-Staatenlösung stehen eben in einem ebenso unversöhnlichen Gegensatz zu israelischen Interessen, wie eine kurdische Staatsgründung dem türkischen Staat entgegensteht. Im Fall Israels haben sowohl die USA als auch die westlichen Verbündeten keinerlei Notwendigkeit gesehen, dem israelischen Interesse entgegenzutreten, ganz entsprechen der Formel: "Oslo ist tot, doch Keinen interessiert es." (KAS, 30 Jahre Oslo-Abkommen, 11. September 2023)11

Diese Haltung hat seit jeher einen palästinensischen Widerstand beflügt, aus dem auch die islamische Widerstandsbewegung Hamas in den 80-Jahren hervorgegangen ist mit dem Ziel, die "Ungerechtigkeit" des israelischen Besatzungsregimes zu beenden und im Namen der "Gerechtigkeit" unter dem Titel "Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes" einen palästinensischen Staat zu gründen.

Nationaler Befreiungskrieg und das sittliche Recht zu Krieg und Gewalt

Gerechte Zwecke können durch berechtigte Mittel erreicht, berechtigte Mittel an gerechte Zwecke gewendet werden." (W. Benjamin, 1955: 31)12

Wie jede nationale Befreiungsbewegung, die auf der Gründung eines eigenen, souveränen Staates frei von kolonialer oder sonstiger Fremd-Herrschaft aus ist, beruft sich auch die islamische Widerstandsbewegung Hamas darauf:

"A real state of Palestine is a state that has been liberated. There is no alternative to a fully sovereign Palestinian State on the entire national Palestinian soil, with Jerusalem as its capital." (Hamas-Charta, 2017, Artikel 27)

In der Zurückweisung solcher Forderungen nach einem eigenen Staat durch die Palästinenser, auch in der Gestalt der Hamas, weiss sich Israel seit seiner Gründung 1948 unterstützt in seiner Funktion als westlicher Frontstaat und regionale Aufsichtsmacht vor Ort zum geo- und weltpolitischen Nutzen seiner Schutzmacht USA und der westlichen Wertegemeinschaft. Für die islamische Widerstandsbewegung Hamas verletzt diese Front die für sie nur gerechte und legitime Schaffung eines zukünftigen, souveränen palästinensischen Staates, dem es wie allen nationalen Befreiungsbewegungen im Interesse seiner Staatsgründung zum Schutz seines zukünftigen palästinensischen Volkes als seiner lebendigen Staatssäule um das Selbstbestimmungsrecht der Völker geht: "...the inalienable rights of the Palestinian people." (Hamas-Charta, 2017, Artikel 21). Wo das doch den Völkerschaften dieser Welt ausdrücklich als ihr völkerrechtlich verbrieftem Rechtstitel deklariert und zuerkannt sein soll im Rahmen eines eigenen, souveränen Staates:

freundschaftliche, auf der Achtung vor dem Grundsatz der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker beruhende Beziehungen zwischen den Nationen zu entwickeln und andere geeignete Massnahmen zur Festigung des Weltfriedens zu treffen. (Charta der Vereinten Nationen, Artikel 1, Abs.2)13

Die Verweigerung dieses Selbstbestimmungsrechts; die Existenz des israelischen Staates als ein seit der Nakba 1948 definitiv herrschendes Besatzungsregime über palästinensisches Gebiet; eine israelische Besiedlungspolitik und Landnahme, die im Grunde mit der Ersten Aliya 1882 begann, ist für das staatlich und islamisch inspirierte Gerechtigkeitsempfinden der Hamas ein absolutes historisches, durch nichts zu rechtfertigendes Unrecht - im Interesse eines zu gründenden palästinesischen Staates. So gesehen:

The establishment of “Israel” is entirely illegal and contravenes the inalienable rights of the Palestinian people and goes against their will and the will of the Ummah; it is also in violation of human rights that are guaranteed by international conventions, foremost among them is the right to self-determination. (Hamas-Charta, 2017, Artikel 18)

Sittlich-ethische Pflicht, unbedingtes moralisches Gebot ist es daher, unter Berufung auf islamischen Widerstand durch einen nationalen Befreiungskrieg das herrschende Unrecht zu beseitigen, "...denn das Unrecht herrscht nur eine Stunde, das Recht aber bis zum Jüngsten Tag...Gott liebt die Gerechten.“ (Hamas-Charta 1988, Artikel 31). Somit im Interesse einer palästinesischen Staatsgründung:

Ziele der Bewegung sind Bekämpfung, Bezwingung und Vertreibung des Unrechts, um die Herrschaft des Rechts wiederherzustellen und die usurpierten Länder ihren rechtmässigen Besitzern zurückzuerstatten...Auf ihrem Weg steht die Islamische Widerstandsbewegung jedem Unterdrückten und Geknebelten mit all ihrer Kraft bei. Sie scheut keine Mühen, durch Worte und Taten das Recht durchzusetzen und das Unrecht zu beseitigen, hier und überall dort, wo sie hingelangen oder Einfluss ausüben kann. (Hamas-Charta, 1988, Artikel 9, 10)

Fremdartig, abseitig oder verrückt ist in solchen Erklärungen und Begründungen der islamischen Widerstandsbewegung Hamas wenig. Und wie alle modernen Staatsgründer oder Berufspolitiker auf dem imperialisitsch zugerichteten Planeten weiss auch die Hamas ihren sittlich-ethisch erzogenen, modernen Staatsbürgern das anzutragen: Die "gerechten Zwecke" (W.Benjamin) gebieten die Beseitigung des Unrechts um der Befreiung und Herrschaft des Rechtes willen, als welche staatliche Interessen und Rechtsansprüche nach Aussen unter Inanspruchnahme ihrer jeweiligen oder projektierten loyal-patriotischen Humanressource insbesondere im Krieg gegen Ihresgleichen geltend gemacht und durchgesetzt werden sollen.

Die Gerechtigkeit der guten Zwecke einmal geltend gemacht erlaubt es, sittlich-moralisch gesehen, die dafür angemessenen Mittel in Betracht zu ziehen und ihren rational-effektiven Einsatz ins Auge zu fassen. Dergestalt werden die in Frage kommenden Mittel, welche immer das auch seien, zu "berechtigten Mitteln" (W.Benjamin). Die sollen die Durchsetzung der gerechten Zwecke nach Aussen, gegenüber widerstrebenden oder gegensätzlichen staatlichen Rechtsansprüche und Interessen bewerkstelligen. Dem staatsgründenden nationalen Befreiungskrieg und seinem nunmehr sittlich-ethischen veredelten Recht zu Krieg und zur Anwendung gerechter Gewalt ist der Weg gebahnt. Im sittlichen geläuterten Recht zum Krieg ist die Kriegsschuldfrage für die Hamas gleichfalls erst mal geklärt.

Dies umso mehr, als auch die Hamas, wie noch jeder moderne Staat, Israel inklusive, das Böse zu benennen weiss, das zu bekämpfen einsichtiger weise die moralische Pflicht eines jeden Palästinensers sein soll: "Wenn Gott es nicht so einrichtete, dass die guten Menschen die bösen verdrängen und dass die Bösen einander bekämpfen, wäre die Erde voller Unheil." (Hamas-Charta, 1988, Artikel 9) Das sieht Israel genauso. Und wer in der modernen Welt des Imperialismus mag da guten Willens diesem Wort widersprechen?

Manfred Henle

Fussnoten:

8 Der quellenkritische und archäologische Forschungsstand heute: "Die Anfänge Israels liegen im Dunkeln" (B.U. Schipper, Geschichte Israels in der Antike, München, 2018: 13; vgl. auch: I.Finkelstein, N. A. Silberman Keine Posaunen vor Jericho - Die archäologische Wahrheit über die Bibel, München, 2002

9 Unter: https://www.jewishvirtuallibrary.org/the-first-aliyah-1882-1903

10 Unter: https://www.derstandard.at/story/2357885/haniyeh-nennt-bedingungen-fuer-anerkennung-israels-durch-die-hamas

11 Unter: https://www.kas.de/de/laenderberichte/detail/-/content/30-jahre-oslo-abkommen

12 W.Benjamin, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, Frankfurt/Main, 1965: 31

13 Unter: https://www.lpb-bw.de/charta